"Ich sah einfach, was los war, und tat, was ich konnte, um zu helfen."

Sir Nicholas Winton

"Wenn es nicht unmöglich ist, dann gibt es einen Weg."

Sir Nicholas Winton
* 19.05.1909 in London, Großbritannien
† 01.07.2015 in Slough, Großbritannien
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Britisch
Staatsangehörigkeit bei Tod: Britisch
Vater

Rudolf Wertheim

* 10. Mai 1881 in Moskau
† 10. Januar 1937 in London
Mutter

Barbara Wertheim

* 04. April 1888 in Nürnberg
† November 1978 in Hendon, Middlesex, England
Schwester

Charlotte Winton

* 1908
† 2001
Bruder

Robert Winton

* 1914
† 2009
Ehefrau

Grete Gjelstrup

* 17. Februar 1918
† 11. Dezember 1999
Sohn

Nicholas Jr. Winton

* 13. Oktober 1952
Tochter

Barbara Winton

* 1953
Sohn

Robin Winton

* 1956
† 1962
Land des Kampfes für die Menschenrechte: Tschechien und Großbritannien
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Prag und London
Bereich Art Von Bis Ort
Schule Public School 1923 1926 Stowe, England
Ausbildung Bankwesen 1927 England, Deutschland, Frankreich
Bankwesen Börsenmakler Anfang der 1930er August 1939 London
Ehrenamtliche Tätigkeit Leiter des örtlichen Luftschutzdepots August 1939
Rotes Kreuz Krankenwagenfahrer März 1940
Royal Air Force Nachtfluglehrer 1942 1946 UK, Frankreich
International Refugee Organisation (IRO) Abteilung Repatriierung 1946 London, Genf
International Refugee Organisation (IRO) Abteilung Entschädigungen, Stellvertreter des Direktors 1946 1948
Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Paris
Glacier Foods Finanzdirektor Maidenhead
Blechwarenfabrik Finanzdirektor Slough

Labour Party

Ort:
Eintrittsgrund: Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die britischen Arbeiter und ihre Familien
Funktion / Tätigkeit: Diskussionen über Hitlers wahre Absichten und sein Vorgehen

Royal Mencap Society

Ort: Maidenhead
Eintrittsgrund: Mangelnde Unterstützung für Familien mit behinderten Kindern
Funktion / Tätigkeit:

Rotary Club

Ort:
Eintrittsgrund:
Funktion / Tätigkeit: Unterstützung der Wohltätigkeitsarbeit

Abbeyfield Maidenhead Society (1973)

Ort: Maidenhead
Eintrittsgrund: Gründung des lokalen Ablegers aufgrund von hohem Bedarf an Pflegeheimen für ältere Menschen
Funktion / Tätigkeit: Fundraising und Kampagnenarbeit für zwei örtliche Pflegeheime

Leitmotiv

Nicholas Wintons Lebensmotto lautete:  „Wenn es nicht unmöglich ist, dann gibt es einen Weg.“

Wie wurde die Geschichte bekannt?

Die Geschichte von Nicholas Winton und seiner Rettungsaktion wurde erst Jahrzehnte später bekannt. Jahrzehntelang hielt er seine Taten geheim und erzählte niemandem davon. 1988 entdeckte Wintons Frau zufällig ein Notizbuch mit Aufzeichnungen über die geretteten Kinder auf dem Dachboden. Dieses Notizbuch gelangte an die Holocaustforscherin Elizabeth Maxwell, die viele der Kinder ausfindig machen konnte. Die britische Fernsehsendung „That’s Life“ des Fernsehsenders BBC griff die Geschichte auf und lud Winton im Februar 1988 als Zuschauer ein. Während der Sendung wurde Winton mit einigen der von ihm geretteten Personen überraschend zusammengeführt, was zu einem sehr emotionalen Moment führte. Diese Fernsehsendung machte Nicholas Winton, der bis dahin niemandem von der Rettungsaktion erzählt hatte, weltberühmt.

Wann wurde die Geschichte bekannt?

Die Geschichte von Nicholas Winton wurde der breiten Öffentlichkeit im Jahr 1988 bekannt.

Wo wurde die Geschichte bekannt?

Durch die britische Fernsehsendung „That’s Life“ des Fernsehsenders BBC aus dem Jahr 1988.

Durch wen wurde die Geschichte bekannt?

Durch Wintons Frau Grete, die ein Notizbuch mit Aufzeichnungen über die geretteten Kinder auf dem Dachboden entdeckte. Schlussendlich führte dies dazu, dass die britische Fernsehsendung „That’s Life“ die Geschichte aufgriff und bekannt machte.

Preise, Auszeichnungen

Nicholas Winton erhielt viele verschiedene Preise und Auszeichnungen. So wurde er zum Beispiel in der Tschechischen Republik durch den Präsidenten Miloš Zeman mit dem „Orden des Weißen Löwen“ ausgezeichnet. Zeman bezeichnete Winton als „Symbol von Mut, tiefer Menschlichkeit und außergewöhnlicher Bescheidenheit“. In Großbritannien wurde Winton 2003 zum Ritter geschlagen und trug daher den Titel „Sir“. Obwohl es nicht direkt eine Auszeichnung ist, wird Winton oft als „britischer Schindler“ bezeichnet, was seine Taten mit denen von Oskar Schindler vergleicht.

Erwähnenswert ist auch eine besondere Aktion der Tschechischen Eisenbahn zur Erinnerung an Wintons Taten: Zum Jahrestag des Kindertransports 2009 gab es den sogenannten „Winton-Zug“, ein Dampfzug aus der damaligen Zeit. Er fuhr die Strecke von Prag zum Bahnhof Liverpool Street in London in vier Tagen, an Bord der Waggons waren u.a. 22 der damals geretteten Kinder und ihre Familien. Am Zielort angekommen, wurden sie von Nicholas Winton empfangen. Der Zug verließ den Bahnhof in Prag am 01. September – am 01. September 1939 sollte der letzte von Winton organisierte Kindertransport abfahren, was jedoch durch den Ausbruch des 2. Weltkriegs verhindert wurde. Im Prager Bahnhof erinnert außerdem eine Statue an Nicholas Winton.

 

Literatur (Literatur, Filme, Webseiten etc.)

Auswahl:

Emanuel, M., & Gissing, V. (2001). „Nicholas Winton and the Rescued Generation: Save One Life, Save the World.“ Palgrave Macmillan.

Winton, B. (2014). „If It’s Not Impossible: The Life of Sir Nicholas Winton.“ Troubador Publishing Ltd.

Sís, P. (2021). „Nicky & Vera: A Quiet Hero of the Holocaust and the Children He Rescued.“ Norton Young Readers.

 

 

Eigene Werke

Nicholas Winton selbst hat keine umfangreichen literarischen Werke veröffentlicht. Allerdings gibt es einige Quellen, die seine Gedanken und Erfahrungen dokumentieren, meist in Form von Vorworten, Briefen oder Interviews, die in Büchern und Dokumentationen über sein Leben und seine Taten enthalten sind. Ein bedeutendes Beispiel ist das Buch „Rescue: The Exodus of the Refugees, 1939“ von Vera Gissing (1988), in dem Nicholas Winton ein Vorwort verfasst hat. Dieses Buch beschreibt die Erfahrungen der geretteten Kinder. Die meisten detaillierten Erzählungen über seine Taten stammen von Historiker*innen, Journalist*innen und den von ihm geretteten Personen.

Nicholas Winton zog seine Lebensenergie vor allem aus einer geschützten Kindheit, der liebevollen und engen Beziehung zu seiner Mutter, einer umfassenden humanistischen Bildung und dem Bewusstsein für seine eigene Geschichte.

 

Persönlichkeit

– Er war bekannt für seine Bescheidenheit und sein tiefes Mitgefühl, das ihn dazu trieb, anderen in Not zu helfen.

 

Politische Einstellung

– Winton war politisch aktiv und Mitglied der Labour Party, wobei er sich besonders für soziale Gerechtigkeit und humanitäre Anliegen einsetzte.

 

Bildung

– Er erhielt eine erstklassige Ausbildung an renommierten Schulen.

Menschenwürde
Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit
Asylrecht
Asylrecht

EINLEITUNG

Nicholas George Winton war ein britischer Humanist, der in den Jahren 1938/39 insgesamt 669 jüdische Kinder aus der damaligen Tschechoslowakei vor dem Holocaust rettete, indem er, gemeinsam mit anderen, Kindertransporte nach Großbritannien organisierte. Er setzte seine berufliche Laufbahn im Finanzwesen fort, während seine Rettungstaten jahrzehntelang unentdeckt blieben. Erst 1988 wurde seine Heldentat bekannt, als seine Frau Grete Gjelstrup ein altes Notizbuch mit den Namen der geretteten Kinder fand und die Geschichte im Folgenden öffentlich gemacht wurde. Winton wurde für seine humanitären Bemühungen mit zahlreichen Ehrungen, darunter die Ernennung zum Ritter im Jahr 2003, ausgezeichnet. Seine Bescheidenheit und sein pragmatischer Idealismus bleiben ein inspirierendes Vermächtnis.

DIE GESCHICHTE

Frühes Leben und Herkunft

Nicky, Lottie und Bobby zu Hause im Garten, um 1917. (Mit freundlicher Genehmigung Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust.)

Sir Nicholas Winton kam am 19. Mai 1909 im wohlhabenden Stadtteil Hampstead in Nord-London zur Welt. Seine Eltern, Rudolf und Barbara Wertheimer, stammten aus dem heutigen Deutschland und waren deutsch-jüdische Immigranten. Schon vor der Geburt von Nicholas hatte sich die Familie in Großbritannien niedergelassen und war Teil der angesehenen jüdischen Mittelschicht. Um sich besser in die britische Gesellschaft zu integrieren, änderte die Familie den Namen “Wertheimer” zu “Wortham”, und schließlich 1939 zu „Winton“.

Nicholas Vater, Rudolf Wertheimer, war ein erfolgreicher Bankier. Die Familie wohnte in einer Umgebung, die intellektuell anregend und kulturell offen war und die Eltern von Nicholas konvertierten nach ihrer Einwanderung zum Christentum. Nicholas Winton hatte zwei Geschwister, die ältere Schwester Charlotte, Lottie genannt und der jüngere Bruder Robert, Bobby genannt. Sein Elternhaus prägte Nicholas stark und gab ihm vor allem die Bedeutung von Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein mit auf den Weg. So entwickelte der junge Nicholas ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein, das stark von den liberalen Wertvorstellungen seiner Familie beeinflusst war. Vor allem sein Vater engagierte sich stark für Gerechtigkeit in der Gesellschaft und für die Eingliederung von Minderheiten.

 

Bildung und früher Karriereweg

Gewinner eines Hamburger Fechtwettbewerbs im Oktober 1929. Nicholas Winton (rechts), belegte den 2. Platz. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust.)

Winton besuchte verschiedene angesehene Schulen in England, unter anderem die Stowe School, eine kurz zuvor gegründete renommierte Bildungsinstitution. Trotz seiner akademischen Begabung absolvierte Winton sein Schulstudium ohne formale Qualifikationen. Dennoch bewies er schon in jungen Jahren ein bemerkenswertes Fecht-Talent und trat der britischen Fechtmannschaft bei. Seine Ausbildung war durch ein deutliches soziales Bewusstsein und politisches Engagement gekennzeichnet, wodurch er in Kontakt mit linksliberalen Kreisen kam. Schon in jungen Jahren zeigte er großes Interesse am Sozialismus, hatte Kontakt zu verschiedenen führenden Persönlichkeiten der britischen Arbeiterbewegung und beteiligte sich an gesellschaftlichen Gruppierungen und in sozialistischen Kreisen, die gegen die wachsende Gefahr des Nationalsozialismus in Europa eintraten. Diese politischen Überzeugungen und das wachsende Verständnis für die bevorstehende Bedrohung durch den Nationalsozialismus in Europa sollten sich später wesentlich auf seine Entscheidung auswirken, sich aktiv für die Rettung jüdischer Kinder einzusetzen.

Nicholas begann seine berufliche Laufbahn in der Finanzbranche als Börsenmakler. Durch diese berufliche Entscheidung kam er in die europäischen Finanzmetropolen Hamburg, Berlin und Paris. Dort sammelte er internationale Berufserfahrung, bevor er nach London zurückkehrte und dort am Börsenmarkt arbeitete. Ihm stand eine vielversprechende Karriere in der Finanzwelt bevor.

 

Die politische Lage in Europa in den 1930er Jahren

In den 1930er Jahren  fanden in Europa große Umbrüche statt, die schließlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führten. Nachdem Adolf Hitler 1933 die Macht übernommen hatte, entwickelte sich das NS-Regime zu einem totalitären Staat mit rassistischen Ideologien. Die Nürnberger Gesetze (1935) entrechteten die jüdische Bevölkerung und grenzten sie sozial aus. Die politische Opposition wurde zum Schweigen gebracht, während Antisemitismus und die Verfolgung von Minderheiten immer weiter zunahmen.

Das Münchner Abkommen von 1938 verschärfte die Situation, da Großbritannien und Frankreich Hitler die Annektierung des Sudetenlandes, das entlang der Grenzen der Tschechoslowakei zum Deutschen Reich sowie zu Österreich verlief, erlaubten. Diese Appeasement-Politik hatte zum Ziel, den Frieden zu bewahren, führte aber dazu, dass das Dritte Reich weiter expandierte.

Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung versuchte, aus dem Sudetenland zu fliehen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Jahr 1939 nahm die Verfolgung der Juden und Jüdinnen Prags und der umliegenden Gebiete ihren Beginn, sie wurden in Ghettos gepfercht und litten unter Hunger und Krankheiten.

Nicholas Winton in Prag (1938-1939)

Nicholas Winton hatte im Dezember 1938, kurz vor Weihnachten, eine Skireise in die Schweiz geplant. Aber ein Telegramm seines Freundes Martin Blake, der für das Britische Komitee für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei (British Committee for Refugees from Czechoslovakia (BCRC)) in Prag tätig war, hatte eine tiefgreifende Wirkung auf sein Leben und das vieler jüdischer Kinder. Gemeinsam mit Marie Schmolková und Hannah Steiner, Vertreterinnen jüdischer Hilfsorganisationen in Prag, wandte sich Blake an seinen Freund und bat ihn, nach Prag zu kommen, damit er die dramatische Lage persönlich erleben und sie bei ihrer Arbeit unterstützen könne. Anstelle des Urlaubs in der Schweiz beschloss Winton, nach Prag zu reisen. Dies war der Beginn einer Rettungsmission, die Hunderte von Leben retten sollte.

Nach seiner Ankunft in Prag sah Winton sofort die katastrophale Situation, die sich aus der Annexion des Sudetenlandes durch das NS-Regime ergeben hatte. Tausende Juden und Jüdinnen und politische Gegner*innen hatten das Sudetenland verlassen und befanden sich nun in überfüllten Flüchtlingslagern unter elenden Umständen. Die jüdische Bevölkerung sah sich einer unsicheren Zukunft gegenüber und litt unter dem zunehmenden Antisemitismus und den steigenden Repressionen.

Kopie von Wintons Brief an seine Mutter vom 1. Januar 1939, in dem er seine ersten Eindrücke nach der Ankunft in Prag schildert. Der Originalbrief befindet sich in einem Sammelalbum, das er von einem anderen Freiwilligen nach dem Ende der Kindertransporte erhalten hatte. Das Sammelalbum wurde 1989 von Winton an Yad Vashem gespendet. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

Winton war von dem, was er sah, sehr beunruhigt. Das Britische Komitee für Flüchtlinge und andere Hilfsorganisationen vor Ort waren hauptsächlich für ältere und kranke Menschen zuständig, während die Kinder häufig nicht beachtet wurden. Winton erkannte bald, dass es höchste Priorität hatte, die Kinder zu retten, da sie zu den am stärksten gefährdeten Gruppen gehörten und großen Risiken ausgesetzt waren. Er war sich bewusst, dass rasches Handeln notwendig war, um die Kinder zu schützen. Daher beschloss er, seinen Fokus auf die Rettung der Kinder zu legen. Neben drohenden Deportationen litten die Kinder stark unter den unzureichenden hygienischen Bedingungen, Hunger und der Trennung von ihren Familien.

Winton begann sofort damit, Kindertransporte zu organisieren. Er bemühte sich um die Beschaffung der notwendigen Papiere, damit die Kinder nach Großbritannien gebracht werden konnten. Dazu zählten Visa sowie die vom britischen Innenministerium für jedes Kind geforderte finanzielle Sicherung. Außerdem musste er für jedes Kind eine britische Gastfamilie finden, die das Kind aufnehmen konnte.

Winton arbeitete dabei jedoch nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Freiwilligen wie Doreen Warriner, Trevor Chadwick und Marie Schmolková. Gemeinsam konnten sie innerhalb weniger Monate acht Transporte von Prag nach Großbritannien organisieren, die insgesamt 669 Kinder in Sicherheit brachten. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem die diplomatischen Beziehungen zwischen den europäischen Ländern immer stärker belastet waren und der Krieg kurz bevorstand.

Die Organisation der Kindertransporte

Winton blieb nur 3 Wochen in Prag, länger gewährte ihm sein damaliger Arbeitgeber keinen Urlaub. Im Januar 1939 kehrte er zurück nach Großbritannien, hatte jedoch in seiner Zeit in Prag einen wichtigen Grundstein für die Rettungsaktion gelegt. In seinem Zimmer im Prager Hotel „Europa“ hatte er Listen der zu rettenden Kinder erstellt. Zurück in London, übernahm er von dort aus die organisatorischen und logistischen Aufgaben für die geplanten Kindertransporte. Der Rettungsaktion standen jedoch große bürokratische Hürden gegenüber. Jedes Kind benötigte ein britisches Visum sowie eine Unterkunft bei einer Pflegefamilie, die die Kinder aufnehmen konnte. In britischen Zeitungen veröffentlichte Winton daher Anzeigen und kontaktierte diverse jüdische und humanitäre Organisationen, um genug Pflegefamilien zu finden. Außerdem verlangte die britische Regierung für jedes Kind auch eine finanzielle Garantie. Um sicherzustellen, dass das Kind später nicht zur Last des Staates fallen würde, mussten alle Gastfamilien eine Kaution von 50 Pfund hinterlegen (im Jahr 2023 entsprach das etwa 4.000 Pfund). Trotz der Tatsache, dass diese Summe für viele Familien eine erhebliche Belastung darstellte, gelang es Winton, viele Spenden zur Deckung der Garantien zu sammeln. Er nutzte dabei sein breites Netzwerk in der Finanzwelt und schaltete Zeitungsanzeigen. Neben der Spendenbeschaffung nutzte Winton die Presse auch, um auf die Situation der Kinder in der Tschechoslowakei aufmerksam zu machen und das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Unterstützung zu wecken.


Marie Schmolková (Gemeinfrei, National Archive of the Czech Republic)

Wintons Ziel war es, möglichst viele Kinder aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien zu holen, bevor die deutschen Streitkräfte in Prag einmarschierten. Während Winton in London die erforderlichen Genehmigungen einholte und Gelder sammelte, bereiteten andere Freiwillige vor Ort in Prag die Transporte vorbereiteten. Doreen Warriner und Marie Schmolková gehörten dabei zu den treibenden Kräften. Marie Schmolková setzte sich seit 1933 unermüdlich für die Flüchtlinge ein, die in der Tschechoslowakei Schutz vor dem NS-Regime suchten. Sie erlangte immense Bedeutung in der Organisation der Auswanderung von Juden und Jüdinnen. Im Jahr 1940 starb sie an einem Herzinfarkt. Im Gegensatz zu Nicholas Winton fand ihr Engagement jedoch kaum Beachtung. Die Historikerin Anna Hájková sagt über sie: “Schmolka’s tragedy is that she was a woman and that she died in a free country. As the Czechoslovak Jewish refugees became British, the woman who made their new lives possible became forgotten.“ (Jewish Voice for Labour)

Auch aus logistischer Hinsicht stellte die Planung der Kindertransporte eine große Herausforderung dar. Die Kinder sollten aus den Niederlanden mit dem Schiff nach Großbritannien gebracht werden, dafür mussten sie jedoch zuvor mit dem Zug durch das von den Nazis kontrollierte Deutschland reisen. Im März 1939 begannen schließlich die ersten Transporte, die allesamt trotz der bevorstehenden Gefahr und der schwierigen Umstände erfolgreich waren. Da die Kinder von ihren Eltern getrennt waren und nicht wussten, was sie in der Zukunft erwartete, waren diese Reisen für sie nicht nur körperlich, sondern auch psychisch belastend. Viele der Kinder, die so gerettet werden konnten, hatten noch lange Zeit mit den psychischen Folgen dessen zu kämpfen.

Die Kindertransporte (März–August 1939)

Gemeinsam mit anderen Freiwilligen organisierte Nicholas Winton von März bis August 1939 insgesamt acht Kindertransporte, mit denen 669 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei in Sicherheit gebracht werden konnte. Diese Transporte, die als „Kindertransporte“ bezeichnet wurden, zählen zu den wichtigsten Rettungsaktionen, die vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchgeführt wurden. Sie erfolgte unter herausfordernden Umständen und erforderte umfassende logistische Planung, bürokratische Schwierigkeiten sowie ein hohes Maß an individuellem Einsatz. Das Prager Team um Chadwick, Warriner, Schmolková und weiteren Freiwilligen betreute die Kinder vor Ort, Winton leitete die logistische und bürokratische Organisation aus London.

Am Londoner Bahnhof Liverpool Street wurden die Kinder nach der riskanten Reise von ihren neuen Pflegefamilien empfangen. Für die Kinder war das keine leichte Situation. Sie kamen in einem fremden Land an und wussten nicht, ob sie ihre Familien jemals wiedersehen würden. In der Tat wurden die meisten Eltern der geretteten Kinder im Holocaust ermordet und es gab kein Wiedersehen.

Der letzte Transport war für den 1. September 1939 geplant. Aber an genau diesem Tag marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein und der Zweite Weltkrieg begann. Dieser neunte Transport, mit dem 250 Kinder gerettet werden sollten, wurde daher abgebrochen. Von den 250 Kindern, die gerettet werden sollten, überlebten nur zwei den Holocaust.

Die Rolle von Wintons Familie und Freunden

Barbara Winton, die Mutter von Nicholas Winton, bei der Organisation der Kindertransporte. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

Die Kindertransporte waren nur durch ein breites Netzwerk an Unterstützer*innen möglich, darunter auch die Familie von Nicholas Winton und viele seiner Freund*innen. Ohne dieses Hilfsnetzwerk wäre die Rettungsaktion nicht möglich gewesen. Barbara Winton, die Mutter von Nicholas, war eine der wichtigsten Unterstützer*innen ihres Sohnes. Sie war sich der Bedeutung seines Vorhabens sofort bewusst und unterstützte ihn bei der Organisation, sowohl moralisch als auch praktisch. Sie half bei der Suche nach britischen Gastfamilien, die die geretteten Kinder aufnehmen wollten. Außerdem war sie für die Ankunft der Kinder in London verantwortlich und kooperierte mit den Behörden und Freiwilligen, um sicherzustellen, dass die Kindertransporte ohne Probleme abliefen.

Auch die britischen Gastfamilien, die die geretteten Kinder aufnahmen, spielten eine wichtige Rolle. Durch Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die Pflegefamilien nicht, wie ursprünglich geplant, nur eine temporäre Unterbringung für die Kinder, sondern boten ihnen für die Dauer des Krieges ein neues Zuahuse und eine sichere Umgebung.

Das Schicksal der geretteten Kinder

Die Schwierigkeiten, die mit der Trennung von ihren Familien und der Eingewöhnung in ein neues Leben in einem fremden Land einhergingen, prägten das Leben der geretteten Kinder. Gleichzeitig sind ihre Geschichten ein eindrucksvolles Beispiel für die Widerstandsfähigkeit und den Willen zum Überleben der Menschen. Viele der geretteten Kinder blieben auch nach dem Krieg im Vereinigten Königreich und gründeten eigene Familien.

Einige von ihnen haben ihre Geschichte festgehalten, darunter zum Beispiel Vera Gissing. Als junges Mädchen verdankte sie einem der Kindertransporte ihr Leben und berichtete später in Büchern und Vorträgen davon. Dabei hob sie stets hervor, wie wichtig Wintons Mut und Bescheidenheit waren. Auch Alfred Dubs, ein Politiker aus Großbritannien, wurde als Kind auf diese Weise gerettet. Als Abgeordneter des britischen Parlaments setzte er sich später selbst für die Rechte von Geflüchteten und Minderheiten ein.

Wintons Leben nach dem Krieg

Von links nach rechts: Grete, Nicholas, Kirsten – Gretes Schwester, nach der Hochzeit in Vejle, Dänemark, 1948. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

Nach Kriegsende sprach Winton jahrzehntelang nicht über seine Taten während des Holocaust. Er heiratete Grete Gjelstrup, kehrte in seinen Beruf als Börsenmakler zurück und widmete sich außerdem verschiedenen wohltätigen Projekten. So war er zum Beispiel in den 1950er Jahren Direktor eines Pflegeheims, engagierte sich für benachteiligte Personen und arbeitete in der internationalen Entwicklungskooperation. Seinen sozialen Überzeugungen und den Werten, die ihm seine Familie mit auf den Weg gegeben hatte, blieb er treu. Aus der Ehe mit Grete gingen drei Kinder hervor: Nicholas (geboren 1952), Barbara (geboren 1953) and Robin (geboren 1956). Robin wurde mit dem Down Syndrom geboren, doch anstatt ihn, wie es zu der Zeit üblich war, in eine Pflegeeinrichtung zu geben, kümmerten sich die Eltern zuhause um ihren Sohn. Auf die fehlende Unterstützung für Familien in einer ähnlichen Situation aufmerksam geworden, gründete Winton einen Ableger der Royal Mencap Society in Maidenhead. Dabei handelt es sich um eine Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Menschen mit Lernbehinderungen einsetzt.

Es mag vielleicht verwundern, warum Winton seinen Einsatz bei den Rettungsaktionen nie zum Thema machte. Bis 1988 war sein Beitrag zur Rettung der jüdischen Kinder kaum bekannt. Auch danach betonte Winton immer wieder, dass er seine Handlungen nicht als heroisch betrachte und nur das getan habe, was nötig gewesen sei. Er stand nur ungern im Rampenlicht und unterstrich immer wieder, dass die tatsächlichen Held*innen die zahlreichen Helfer*innen und die Gastfamilien seien, die diese Rettung ermöglicht hatten.

 

Familienfoto, aufgenommen um 1956. Von links nach rechts: Nicky, Lottie, Grete, Bobby, dessen Frau Heather, Großmutter Barbara. Kinder von links nach rechts: Barbara, Peter (das erste Kind von Bobby und Heather), Nicholas. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

Nicky mit Robin, seinem und Gretes drittem Kind. Robin starb 1962, einen Tag vor seinem 6. Geburtstag. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

 

 

Die späte Entdeckung seiner Rettungsaktion

Nicholas Wintons humanitäre Taten wurden erst 1988 bekannt. Zuvor hatte seine Frau Grete auf dem Dachboden ein altes Notizbuch mit Dokumenten und Listen der von ihm geretteten Kinder gefunden. Dieses Notizbuch enthielt auch Schreiben von besorgten Eltern, die um den Schutz ihrer Kinder baten. Bis dahin hatte Winton seinen Einsatz ihr gegenüber nicht erwähnt. Grete übergab das Notizbuch an die Holocaustforscherin Elizabeth Maxwell, die sich damit auseinandersetzte und die Redakteur*innen der Fernsehsendung „That’s Life!“ des britischen Fernsehsenders BBC informierte. Im Februar 1988 saß Winton im Publikum dieser Fernsehsendung und wusste noch nichts davon, dass er in wenigen Momenten mit einigen der von ihm geretteten Kinder vereint werden würde. An einer Stelle der Sendung forderte die Moderatorin Esther Rantzen die Zuschauer*innen auf, sich zu erheben, wenn sie Nicholas Winton ihr Leben zu verdanken hätten. Es folgten emotionale Szenen, als rund um Winton immer mehr Menschen aufstanden und er erkannte, wie viele Leben er beeinflusst hatte. Über Nacht wurden Wintons Rettungsaktionen so bekannt und es entstand ein großes Interesse an seiner Geschichte in der Öffentlichkeit. Winton wurde aufgrund der wachsenden Berichterstattung international bekannt, betonte aber weiterhin, dass er einfach „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ gewesen sei. Viele der geretteten Kinder – jetzt erwachsene Menschen – blieben nach der BBC-Sendung mit Winton in Kontakt. Sie empfanden große Dankbarkeit ihm gegenüber und mit vielen pflegte Winton bis zu seinem Tod einen engen Kontakt. Im Jahr 2015 starb Nicholas Winton im Alter von 106 Jahren.

Im Jahr 2003 wurde Nicholas Winton von Königin Elizabeth II. zum Ritter geschlagen, eine der höchsten Auszeichnungen in Großbritannien. Die Tschechische Republik verlieh Winton 2014, nur ein Jahr vor seinem Tod, den „Orden des Weißen Löwen“, die höchste staatliche Auszeichnung. Eine Statue ihm zu Ehren wurde am Londoner Bahnhof Liverpool Street errichtet, wo die geretteten Kinder im Vereinigte Königreich ankamen. Darüber hinaus entstanden viele Filme und Dokumentationen über Wintons Leben.

 

Die Rettungsaktionen von Nicholas Winton, Doreen Warriner, Trevor Chadwick und Marie Schmolková verdeutlichen, wie wichtig es ist, in Krisenzeiten zu handeln, anstatt sich abzuwenden. Ihr Mut zeigt, wie wichtig individuelles Handeln ist – die geretteten Kinder und ihre Nachkommen sind das lebendige Erbe dieser Rettungsaktionen.

Nicholas Winton bei einem Empfang in London mit fünf „seiner Kinder“ und dem tschechischen Botschafter, um 1998, von links nach rechts: Lord Alfred Dubs, Botschafter Pavel Seifter – tschechischer Botschafter am Hof von St. James, Nicky, Vera Gissing, Lady Milena Grenfell-Baines, Karel Reisz, Ute Klein. (Mit freundlicher Genehmigung des Sir Nicholas Winton Memorial Trust)

 

 

Autor*innen: Ariya Singh / Magdalena Köhler

 

Quellen:

BBC. „Holocaust ‚hero‘ Sir Nicholas Winton dies aged 106.“ 01.07.2015. https://www.bbc.com/news/uk-england-33350880 [letzter Aufruf: 27.05.2025].

Brade, Laura E. und Holmes, Rose. „Troublesome Sainthood: Nicholas Winton and the Contested History of Child Rescue in Prague, 1938–1940.“ Indiana University Press, History & Memory, Volume 29, Number 1, Spring/Summer 2017, pp. 3-40.

Jewish Voice for Labour. „Marie Schmolka, who inspired the Kindertransport.“ 30.10.2017. https://www.jewishvoiceforlabour.org.uk/article/marie-schmolka-inspired-kindertransport/ [letzter Aufruf: 28.05.2025].

Lebendiges Museum Online. „Das Münchner Abkommen.“ 14.09.2014. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/muenchner-abkommen-1938 [letzter Aufruf: 27.05.2025].

National Holocaust Museum, Nicholas Winton. Webseite: https://www.holocaust.org.uk/nicholas-winton [letzter Aufruf: 27.05.2025].

Sir Nicholas Winton Memorial Trust. Webseite: https://www.nicholaswinton.com/ [letzter Aufruf: 27.05.2025].

United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC. „Nicholas Winton and the Rescue of Children from Czechoslovakia, 1938–1939“ 08.09.2023. https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/nicholas-winton-and-the-rescue-of-children-from-czechoslovakia-1938-1939 [letzter Aufruf: 27.05.2025].

 

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