GENOCIDE

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08.12.2024

Ohne Auftrag

Die Autobiografie des Holocaust-Überlebenden Raphael Lemkin

 

Raphael Lemkin wollte Genozid durch einen internationalen Vertrag aus den Händen der Politiker nehmen und auf eine objektive Gesetzesgrundlage stellen. Am 9. Dezember 1948, vor 76 Jahren, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Völkermordkonvention.

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Die Gefahr sei gering, schrieb der Schriftsteller Antonio Muñoz Molina 2018 im Vorwort zur spanischen Übersetzung der Autobiografie Raphael Lemkins, dass das von diesem erfundene Wort „Genocide“ in Vergessenheit geraten wird.

Als die BUXUS EDITION 2020 die deutsche Ausgabe der von Donna-Lee Frieze zuerst in den USA publizierten Autobiografie herausbrachte, dachte niemand daran, dass Deutschland vier Jahre später vor dem IGH wegen Beihilfe zum Genozid angeklagt würde. Es ist die zweite Genozid-Anklage im Gaza-Krieg. Die erste von Ende 2023 richtete sich gegen Israel, das von Südafrika des Völkermords an den Palästinenser*innen beschuldigt wird. Die Hauptverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof werden sich über Jahre hinziehen. Israel beruft sich demgegenüber nach dem Massaker der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Palästinenserorganisationen vom 7. Oktober 2023 auf das Recht zur Selbstverteidigung. Soweit die in jeder Hinsicht erschreckenden Fakten.

Als der polnische Jurist Raphael Lemkin begann, nach einem angemessenen Begriff für das Verbrechen des Völkermords zu suchen, war das Verbrechen der Verbrechen im von den Nationalsozialisten besetzten Europa in vollem Gang. Genozid als Verbrechen durch einen internationalen Vertrag zu brandmarken, als Warnung an die Welt, während die Nazis „das Buch des Todes meiner Brüder schreiben“, war Lemkins Ziel. Bis die Genozidkonvention von der Generalversammlung der UN 1948 angenommen wurde, das erlebte Lemkin leidvoll, war es zu spät, um einen Teil der Menschheit zu retten. Auch Lemkins Familie wurde ermordet, einzig sein Bruder und seine Schwägerin überlebten.

Aktuell verdichten sich im Gaza-Krieg die Anklagen gegen Politiker. Der IStGH hat Haftbefehl gegen den israelischen Premier B. Netanyahu und seinen Ex-Verteidigungsminister J. Galant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. In einem Interview mit Zeit-Online sagt der israelische Anwalt Michael Sfard dazu:

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland die Errichtung eines Weltgerichts immer unterstützt, als Teil seines „Nie wieder“-Versprechens an die Menschheit. Sollte es nicht gelingen, Gräueltaten im großen Umfang zu verhindern, dürfen diese wenigstens nicht ungestraft bleiben – soweit die Theorie. Wenn Deutschland die Ordnung des IStGH nun anzweifelt, untergräbt das die Autorität dieser Institution und signalisiert ihre Schwäche an alle anderen Staaten. Für das Völkerrecht und das internationale Strafrecht sind zwei Dinge entscheidend: die Länder, die das Recht umsetzen. Und das Vertrauen der Menschen weltweit, dass Institutionen wie der IStGH dazu dienen, Werte zu schützen und nicht Interessen. Deutschland darf auf den Haftbefehl gegen Netanjahu nicht anders reagieren als auf den gegen Wladimir Putin. Andernfalls würde das bedeuten, dass die Einhaltung eine Frage von Interessen und nicht von Prinzipien ist. Damit würde das Vertrauen verspielt.“  (Zeit-Online, 3.12.2024 – mit Bezahlschranke)

Die Rechtslage ist klar, so schwer die anstehenden Entscheidungen vor dem Hintergrund des Holocaust sind. Sie fielen im Übrigen auch damals schwer, wie der Präsident Dr. Herbert Evatt in seiner Rede im Anschluss an die Verabschiedung der Genozidkonvention den Versammelten in Erinnerung rief. Er sagte am 9. Dezember 1948:

Entwürfe, Streichungen und verschiedene Versuche von Raphael Lemkin zur Schöpfung des Neologismus „Genozid“. Undatiert. Foto Berg Institute, Madrid.

„Abschließend möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass die erste Resolution der Generalversammlung über Völkermord von 1946 eine der wenigen Resolutionen war, die auf der ersten Generalversammlung einstimmig angenommen wurden. Die Resolution besagte, dass das Verbrechen des Genozids das Gewissen der Menschheit erschüttere, der Menschheit große Verluste zugefügt habe und sämtlichen Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufe. Zu jener Zeit spürten alle Nationen, dass moralische Grundsätze und Erwägungen menschlicher Solidarität, die den Schutz religiöser, rassischer und nationaler Gruppen forderten, Vorrang haben sollten vor politischen und juristischen Vorbehalten. Diese Grundhaltung muss auch weiterhin maßgeblich für uns sein, heute und in Zukunft.
Um des Fortschritts und des gesellschaftlichen und internationalen Friedens willen, bitte ich inständig darum – und ich denke, das entspricht der einstimmigen Überzeugung der Versammlung –, dass diese Konvention schnellstmöglich von allen Staaten unterzeichnet und von allen Parlamenten ratifiziert wird, sodass grundlegende Menschenrechte fortan unter dem Schutz des Völkerrechts stehen (…).“ (Ohne Auftrag, S. 382f.)

Realpolitik lässt sich damit schwerlich rechtfertigen und wäre Doppelmoral um den Preis, das Völkerrecht und das internationale Strafrecht zu untergraben. Was wiederum bedeutet, es den Interessen von skrupellosen Machtpolitikern zu überlassen, denen Raphael Lemkin es mit guten Gründen entziehen wollte.

Raphael Lemkin, Ohne Auftrag. Autobiografie. Text von Donna-Lee Frieze. Übersetzt von Stephanie Arzinger. Hrsg. von Irmtrud Wojak und Joaquín González Ibáñez. BUXUS EDITION 2020, 421 S., Reihe: Bibliothek Literatur und Menschenrechte, ISBN 978-3-9817614-3-6

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Autorin: Dr. Irmtrud Wojak
Kontakt: info@ifbb.fritz-bauer-forum.de

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